Das Holle-Archiv

Holle-Archiv

Lucian Patermann

Mit diesem fortlaufenden Projekt knüpfe ich an eine über 200 Jahre zurückliegende Sammlungsgeschichte an und versuche das Sagenmotiv der Frau Holle in unserer Gegenwart kritisch und spielerisch zugleich zu beleuchten. Die Figur ist heute vor allem durch die Hausmärchen der Gebrüder Grimm bekannt, verfügt aber schon laut deren Auseinandersetzungen über eine kulturgeschichtliche Vergangenheit, die auf bis zu 30.000 Jahre geschätzt werden kann. Dabei wird sie zu einer Göttin oder Matriarchin, die mit archetypischen Eigenschaften von Fruchtbarkeit und Kultur verknüpft wird. Ihr werden Namensvarianten zur Seite gestellt, wie beispielsweise Hulda oder Perchta.

In der Grimm’schen Version sind viele Merkmale der Figur nur als kleinste Indizien erhalten, während der Fokus auf eine bürgerlich geprägte Mädchen-Erziehung, jener Zeit entsprechend, verschoben scheint. In meiner Auseinandersetzung widme ich mich umgekehrt diesen unscheinbaren Facetten und einer komplexen, aber stark wirkenden Figur, die mir eher mit Orten des Wassers und mit mütterlichen Aspekten verbunden scheint, als mit der Grimm’schen Unterordnung von Mädchen in häusliche Belange. Sie wird als Entsprechung der Mutter-Erde assoziiert, aber auch mit Elternschaftswünschen oder der Fürsorge der Menschen untereinander.
Frau Holle half mir überdies als gedankliche Begleiterin, um Touren durch die ländlichen Regionen Mitteldeutschlands zu unternehmen, meinen Blick auf Gewässer und Quellen zu richten und Gespräche mit Menschen vor Ort zu suchen. Zunehmende Trockenheit bestimmt die Region schon heute und Polarisierungen traten dabei allerorts zu Tage, als gäbe es kein Grau mehr. So wie das Wasser aus dem Land verschwindet, scheint es auch um das Wissen und die Geschichten bestellt, welche einst Menschen mit ihrer Umwelt verbanden. Je nach der regionalen Beschaffenheit, wird die Holle mal mit einem Teich verbunden und andere Male mit Höhlen oder Berggipfeln. Zugleich ist das Vergessen selbst schon fester Bestandteil der Erzählung geworden, wenn beispielsweise die Pechmarie das Anliegen der ihr gestellten Aufgaben vernachlässigt und nur auf deren Belohnung abzielt. Im Dialog mit Land und Leuten ist mir die alte Figur tatsächlich immer wieder begegnet – als Protagonistin lokal verwobener Geschichten (rund um Quellen und Gewässer), als Bemalung auf Brunnenabdeckungen (neben Disneys Schneewittchen) oder auch als drapierte Puppe am Fenster

Bestandteile des Holle-Archivs

Mein Holle-Archiv versammelt derzeit verschiedene Werkgruppen, die einzeln wirken können oder einander in Ausstellungen und Abendprogrammen ergänzen. Diese Gruppen bezeichne ich folgend:

1. Quellgänge – Fotografien und Texte
2. Huldas Gespinst – Licht- und Video-Installation
3. Huldas Tore und Fenster – Leinwände/Lichtbilder
4. Holle-Tänze – Fotocollagen
5. Holle-Venus – Zeichnungen
6. Etwas über Holle – Szenische Zusammenführung verschiedener Materialien

Quellgänge

Die Quellgänge, sind dokumentarische Fotografien, welche ich durch Texte begleite, in denen meine Gespräche, Beobachtungen und Gedanken von Wanderungen zu Orten des Wassers in Mitteldeutschland in lyrischer Montage verdichtet sind. Ich zeige (trockene) Quellen ebenso wie Schauplätze die sich an den Tourismus richten und ich verdichte, was in den Gesprächen und nicht zuletzt in mir quillt. Viele der Orte, die ich so besucht habe, sind in der Region meiner eigenen Herkunft, so dass auch ich, in mancher Hinsicht, meine eigenen Quellen befrage.

Huldas Gespinst

Huldas Gespinst ist eine Textil-, Licht- und Soundinstallation welche ich verschiedenen Ausstellungsorten entsprechend in Größe und Form variiere. Hulda ist eine ältere Namensvariante der Frau Holle und leitet sich von Huldigung ab. Mit dem Beinamen Gespinst und mit der Materialität der Installation beziehe ich mich auf einen Aspekt der Holle-Figur, in welchem sie als Stifterin der Webkunst, dem Garn und dem Nähen bezeichnet wird. Zugleich changiert die Installation je nach Licheinfall zwischen der Anmutung eines Wolken gleichenden Gebildes und der Atmosphäre von Tropfsteinhöhlen.
„In Märchen und Mythen repräsentiert Nähen oft den geduldigen, sich Stich für Stich fortsetzenden Prozess, der zur Erlösung führt, den zerrissenen Stoff der Seele repariert oder die verhexte Situation flickt. Näherin und Schneider sind die Verkörperungen des demütig Heroischen der Psyche, von Kleinigkeit und Wiederholung; es sind diejenigen, die weise genug sind, die auseinandergefallenen Nähte eines poteniellen Ganzen aufzunehmen“ (Aus: „Das Buch der Symbole. Betrachtungen zu archetypischen Bildern“).

Bild-, Video- und Textmaterial zu Huldas Gespinst hier.

Huldas Tore und Fenster

Huldas Tore und Fenster,
sind Leinwände mit einem besonders fein gewobenen und dabei sehr lichtdurchlässigem Stoff, der an Laken erinnern kann. Diesen Stoff habe ich mit „Pech“ bearbeitet, einer selbst gemischten Masse aus Kiesel, Sand und Farbe. So habe ich topografisch anmutende, abstrakte Texturen erstellt, die zwischen Weiß und tiefem Schwarz eine Menge von Graustufen zeigen. Eine Ästhetik wie aus getrockneten Flussbetten, wobei der Sand innerhalb des gemischten Sediments zuweilen wie Gold erscheint. Diese Arbeiten sind ästhetische Antworten entgegen „reinem“ Schwarz-Weiß, wie es das Grimm’sche Hausmärchen sugerieren kann, wie es aber auch in unserem Denken fest verwurzelt sein kann.
Einige dieser Leinwände sind zusätzlich als Leuchtkästen gebaut, in denen mittels LEDs verschiedene Durchleuchtungen realisiert sind. Durch die Graustufen schimmert dann Farbe und aus den Oberflächen entstehen neue Tiefen. Das grelle leuchten der Farben und die technische Erweiterung dieser Bilder, verknüpft sich dabei mit einer Ästhetik, wie wir sie auch aus Clubs und von Festivals kennen.

Holle-Tänze

Holle-Tänze,
sind in Fotografien und Videosequenzen festgehaltene Studien die ich gemeinsam mit verschiedenen Tänzerinnen realisiert habe, um mich der Geschichte der Holle auf physischer Ebene anzunähern. Nehmen wir die Vermutung ernst, dass die Figur über eine 30.000 jährige Vergangenheit verfügt, dann reicht sie bis in eine Zeit, über die wir wenig in Bezug auf die Beschaffenheit unserer Sprache sagen können. Kulturhistorischen Betrachtungen zufolge, könnte der körperliche Ausdruck, also der Ausdruckstanz, die Quelle unserer Sprachen gewesen sein, mit denen wir erst später imstande waren, uns Geschichten zu erzählen.

Sei es im Kreis, am Feuer oder mitten in der Landschaft, wir kennen diese tänzerischen Praktiken aus vielerlei Quellen auf dem ganzen Globus. Vielerorts stehen sie für eine Verbindung, die Menschen zu ihrer spezifischen Umwelt suchen.

Bilder und mehr.

Holle-Venus

Die Holle-Venus,
ist ein Arbeitsbegriff unter dem ich Zeichnungen versammle, die inspiriert sind von Besuchen in naturhistorischen Museen. Dort habe ich mir verschiedene Venus-Figuren angeschaut, die zu den ältesten menschlichen Kulturartefakten gezählt werden und deren historische Verwendung rätselhaft ist. Mit der Holle-Venus bewege ich mich daher klar im Bereich der Fantasy und knüpfe auf bildnerischer Ebene an die Sphäre an, aus der ich die Frau Holle einst erzählt bekam.

Etwas über Holle

Mit Etwas über Holle zeige ich ein szenisches Verschmelzen der Lichtinstallation Huldas Gespinst mit Video-, Text- und Tonarrangements aus dem Holle-Archiv. Ich balanciere hierbei entlang eines tief ins Land greifenden Pfads zwischen dystopischer Fantasy und schlichter Dokumentation erlebter Situationen. Aus diesen Elementen spinne ich ein Gewebe, das uns mal hoch in die Lüfte und mal in tiefe Höhlen führt, stets begleitet von der Frage: Was verbindet Land und Leute?

Eine ca. 35-minütige Uraufführung zeige ich im Rahmen eines szenischen Dialogs mit der Klangkünstlerin Anja Erdmann im Theater Erfurt. Der gemeinsame Programmtitel lautet dort: Vom Sichtbarmachen.

Aufführungen:
6.10.2023 – 20.00 Uhr | Theater Erfurt – Studiobox
14.10.2023 – 19.30 Uhr | Theater Erfurt – Studiobox
30.11.2023 – 18.00 Uhr | Theater Erfurt – Studiobox

Die Grundsteinlegung des Archivs wurde 2022 im Rahmen des Residenzprogramms des Thüringer Theaterverbands gefördert von der Thüringer Staatskanzlei. Unterstützt wurde ich außerdem durch die Mothek im Rahmen gemeinsamer Touren durch Südthüringen, ebenfalls 2022.
Ein neues Projekt, das auf Grundlage des Archivs entsteht, ist Etwas über Holle. Dieses Projekt wurde 2023 als Auftragsarbeit des Theater Erfurt ermöglicht.