Kunsthistorikerin Anne Simone Krüger über Lucian Patermann

Sprengung der Schemata

Elegant geschwungene Linien tanzen über die Leinwand, verbinden sich zu außergewöhnlichen abstrakten Gebilden, durchdringen einander oder zerfallen in geometrische Fragmente.

Kohleschwarz, Kobaltblau, Fichtennadelgrün oder Ockergelb schweben sie vor einem Bildraum, dessen Tiefe nicht zu verorten ist. Teils erzeugen die Liniengebilde Formen, dann wieder wirbelnde Arabesken, mal hauchfein und mal als gewundene Flächen. Die rätselhaften Strukturen sind jeweils in einem individuellen Farbklang gehalten, der jedem Werk des Künstlers Lucian Patermann seine ganz eigene Harmonie verleiht. Diese Farbklänge bringen die rhythmisch strukturierten Formgebilde in einem charakteristischen Ton zum Klingen. Melancholisch ruhiges Meerblau, leidenschaftliches Violett, heiteres Zitronengelb oder energetisches Rot ziehen den Blick in ein farbiges Universum. Diese Farbwelten erinnern an die tonale Skala des Bauhauses – kein Zufall, Lucian Patermann hat Freie Kunst an der Bauhaus-Universität studiert und einige Einflüsse der Theorien der Leitfiguren Johannes Itten und Wassily Kandinsky aufgenommen, um daraus eigene Ansätze zu entwickeln. Ganz bewusst setzt er Farben ein, um die eigene Wahrnehmung, wie auch die der Betrachter, kontinuierlich mit neuen Spannungsfeldern zu konfrontieren. Gibt es tatsächlich eine allgemeingültige Farbharmonie? Oder ist die Wahrnehmung von Farbklängen nicht vielmehr subjektiv geprägt? Gibt es Bilder, die für alle Betrachter harmonisch sind? Das Thema der Farbenlehre und –harmonie hat Tradition. Bereits Leonardo da Vinci und Johann Wolfgang von Goethe arbeiteten mit mathematischen Ordnungssystemen, um der Wirkung der Farbe auf die Schliche zu kommen. Das Umfeld des Bauhauses differenzierte die Überlegungen für sich weiter aus. Lucian Patermann weiß um die Erkenntnisse seiner historischen Vorgänger. In seiner Arbeit macht er sich, auf Basis dieses Wissens, gleichzeitig von den daraus resultierenden Denkschemata frei, um individuelle Lösungen zu finden. Denn Farbwahrnehmung ist – jenseits aller Theorien –  grundsätzlich subjektiv. Form und Farbe sind nicht die einzigen Protagonisten in Patermanns Werken. Tritt man näher an die Bilder heran, tauchen zwischen den rhythmischen Strukturen und den Farbflächen Schriftelemente auf. Filigrane kalligrafische Wortreihen besetzen die Zwischenräume der schwungvollen Linien und bringen ins Bild, was sonst dem Realraum vor dem Bild zugeschrieben wird: die Sprache.

Sprache ist jedoch nicht nur in den Zwischenräumen zu finden. Sie ist gleichzeitig der Ausgangspunkt der Bilder, bestimmt die Komposition und die visuelle Struktur. So basieren beispielsweise die mit der Feder gezeichneten Jetzt-Kaligramme auf ebenjenem Wort „jetzt“. Aus verschiedenen Sprachen entlehnt werden zunächst alle Buchstaben je einer Sprachvariante übereinandergeschrieben und schließlich miteinander verschränkt. Das Wort wird visuell transformiert und selbst zum Bild. Zwar ist es für den Betrachter nicht mehr lesbar, doch es ist da, wir können es uns vorstellen. Womit es genauso abstrakt wird wie die menschliche Sprache selbst und damit ihre Einmaligkeit unterstreicht. Denn ohne Sprache könnten wir nicht abstrahieren und nicht von Dingen sprechen, die es gar nicht gibt. „Nur mit der menschlichen Sprache lassen sich Dinge erfinden und weitererzählen. Man könnte sie deshalb als ‚fiktive Sprache’ bezeichnen“ schreibt der israelische Professor Yuval Noah Harari in seiner kurzen Geschichte der Menschheit.1 Und weiter: „Aber mit der fiktiven Sprache können wir uns nicht nur Dinge ausmalen – wir können sie uns vor allem gemeinsam vorstellen.“ Lucian Patermann nutzt diese Fähigkeit der Sprache und macht sie zum zentralen Aspekt seiner Bilder. Statt ein mimetisches Abbild der Natur in Form gegenständlicher Malerei zu fertigen bedient er sich der Wörter. Nicht um mit den Begriffen objektbezogene Vorstellungen hervorzurufen, sondern vielmehr, um eine andere Form der Bildsprache zu finden. Eine, die selbst abstrakt bleibt und doch eine zur sprachlichen Grammatik äquivalente eigene Grammatik aufweist. Eine visuelle Grammatik. Bereits Wassily Kandinsky entwickelte mit dem zunehmenden Abstraktionsgrad seiner Bilder ein solch grammatikalisches System. Und malt, bezeichnenderweise, das erste abstrakte Aquarell im Jahr 1910 parallel mit der Niederschrift seiner Betrachtungen „Über das Geistige in der Kunst“, „in denen er sich mit dem Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren, der seelischen Kräfte durch Variation von Farbklängen in Analogie zur Musik auseinandersetzt“.2 Lucian Patermann geht es nun weniger um die Seele, als vielmehr darum, den Betrachter zurück in die eigene Vorstellung zu führen. Seine Bilder lösen sich von jeglicher Realität und Dinghaftigkeit indem sie einem abstrakten sprachlichen Begriff eine abstrakte visuelle Form verleihen. So sprengen sie jegliche Bindung an die Dinge wie auch an die Wörter und öffnen die festgefahrenen Strukturen unseres vom sprachlichen System geprägten Denkens. Dieses Denken, das in allem eine Bedeutung sehen will, wird hier mit einem visuellen Code konfrontiert, dessen Reiz darin liegt, dass er vom Betrachter erst noch entschlüsselt werden muss.

Die visuelle Grammatik schwingt dabei zwischen mathematischen Berechnungen und deren Aufbrechen durch intuitive Gesten. Im Ablauf der surrealistischen „écriture automatique“ nicht unähnlich, sucht der Künstler den spontanen Zugang zu den Wörtern. Wobei es ihm – im Unterschied zu den Surrealisten – weniger um den Inhalt, als vielmehr um die Form und den Ausdruck geht. Wie lässt sich ein Begriff adäquat in einem visuellen Zeichen ausdrücken? Wie lassen sich abstrakte sprachliche Begriffe überhaupt darstellen? Die kaligrafischen Gebilde in Lucian Patermanns Bildern bieten die Möglichkeit einer alternativen Annäherung, die sich frei macht von den Schablonen gängiger Darstellungsweisen. Mit dem individuellen Zeichensystem seiner Bilder bewegt er sich dabei in ähnlichem Fahrwasser, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits der belgische Maler René Magritte durchpflügte. 1929 entstand dessen ikonisches Gemälde La Trahison des images (Ceci n’est pas und pipe). Darauf zu sehen ist eine gemalte Pfeife und darunter in französischer Sprache die Feststellung: Dies ist keine Pfeife. So absurd dies im ersten Moment klingen mag – wo Magritte recht hat, hat er recht. Denn was ist es, was wir sehen? Wenn Magritte eine Pfeife malt, sehen wir dann eine Pfeife? Das Bild einer Pfeife? Wenn wir das Wort Pfeife benutzen, ist dies dann eine Pfeife? Inspiriert vom französischen Philosophen Michel Foucault verwendet er die Sprache als Instrumentarium, um einen Denkprozess über die Wahrnehmung zu evozieren. Aus seinen Überlegungen schlussfolgert er, dass keines unserer Wörter und Bilder den Dingen als solchen wirklich angemessen ist3, dass wir sie immer vor der Folie unserer Denkschemata betrachten und in der Wahrnehmung keineswegs frei sind.4 Seine Versuche einer visuellen Lösung dieses Dilemmas spielen mit den normativen Kategorien unserer Weltsicht, vereinbaren Unvereinbares oder eröffnen, durch in die Bilder eingefügte Schrift und gemalte Begriffe, Denkräume. Ganz anders und doch aus dem gleichen Interesse heraus nutzt Patermann Wörter und Begriffe. Ebenfalls auf der Suche nach einem Weg, der zu einem freien, von der wissenschaftlichen Systematisierung losgelösten, Denken führt, nutzt er die Wörter als Ausgangspunkt seiner freien gestischen Malereien und Zeichnungen. Und öffnet die Begriffe durch seine individuelle visuelle Grammatik für alternative Perspektiven und subjektive Zugänge.

In seiner charakteristischen Formensprache bricht Lucian Patermann die Sprache auf, gliedert sie in ihre grafische Repräsentation, verschiebt sie und formuliert sie neu. Bewegung wird in diesen Prozessen zu einem wichtigen Moment, die Syntax der Sprache gerät in Schwingung, die Formen nehmen diese auf. So erhält die Zeit Eingang in die Bilder, denn der Ursprung aller Bewegung ist Zeit. Die Bewegungen des Künstlers in der Zeit, sind den geschwungenen Linien eingeschrieben. Zeit ist aber auch die Dimension, in der die flüchtige gesprochene Sprache sich bewegt. Ihr nähert sich Patermann auch über seine Installationen, die sich der Medien Video und Performance bedienen. Die Videoarbeit „Falling“ setzt sich mit der Zeithaftigkeit Dauer auseinander. Wie lässt sich etwas derartig Abstraktes wie der Begriff Dauer visualisieren? „Diese Dauer, was war sie? [/] War sie ein Zeitraum? [/] Etwas Meßbares? Eine Gewißheit? [/] Nein, die Dauer war ein Gefühl, [/] das flüchtigste aller Gefühle, [/] oft rascher vorbei als ein Augenblick, [/] unvorhersehbar, unlenkbar, [/] ungreifbar, unmeßbar.“5 dichtet Peter Handke 1986. Lucian Patermann findet für Handkes Worte leise poetische Bilder, die – wie seine Malereien und Zeichnungen – Raum für das Denken des Betrachters lassen. Und ihm gerade durch die Offenheit die Möglichkeit bieten, aus den gewohnten Denkschablonen herauszutreten.

Farbe, Form und Sprache bilden bei Lucian Patermann die Eckpfeiler eines gleichzeitig reflexiven und emotionalen Gefüges, innerhalb dessen er sich frei bewegt und zu immer neuen Varianten bildnerischer Lösungen gelangt. Die Idee des „Durchdeklinierens“ erhält hier eine nie dagewesene Bedeutung.

Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin

 

 

1 Noah Yual Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit, 28. Aufl. München 2015 (2011), S.37.

2 Karin Thomas: Blickpunkt Moderne. Eine Geschichte der Kunst von der Romantik bis Heute, 1. Aufl, Köln 2010, S.94.

3 Vgl. Karlheinz Lüdeking: Die Wörter und die Bilder und die Dinge. Foucault & Magritte. In: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/New York 1990, S. 280-307, S.281.

4 Vgl. Ebd. S.284.

5 Peter Handke: Gedicht an die Dauer. Frankfurt am Main, 1986.